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Da sitzt er nun, der arme Tohr

170318 Faust nB
Valentin (Mirko Warnatz) schaut cool zu, wie der aufgeregte Student (Wolfgang Tegel) von Faust (Sebastian Volk) und Mephisto (Tom Bartels) in völlige Ratlosigkeit versetzt wird Foto: Steffen Rasche

Anmerkungen zu Goethes „Urfaust“ an der „neuenBühne“ Senftenberg

Senftenberg. Samstag Premiere, Montag darauf am frühen Vormittag volles Haus für Schüler. Überwiegend zehnte Klassen. Ein ausgesprochen angenehmes und ganz offensichtlich interessiertes Publikum. Der Wortschwall verebbt augenblicklich, als es schlagartig dunkel wird und – nein, kein gothisches Studierzimmer – eine Bar zu sehen ist, in der sich weite Teile der kommenden Handlung zutragen. Auf der Erde lungert Faust: „Hab nun, ach!…“ und so weiter. Da sitzt er nun, der „arme Tohr“, hat nicht ganz so viel studiert, wie der Autor vorschreibt, wirft sein Kritzelbuch hin, aus dem dann „der Geist“ selbst liest, was zu sagen wäre.
Atemlose Stille jetzt und fortan im Großen Saal, denn was sich ereignet, klingt nicht nur äußerst klug, es schaut sich auch faszinierend an. Statt eines Faktotums mit Schlafrock und Nachtmütze aus dem Textbuch steht Wagner als Kneiper hinterm Tresen und weiß, was seine Gäste brauchen. Faust saugt am Chemococktail und halluziniert seine Geschichte. Hier und mehrfach in anderen Situationen fächert sich die Handlung multimedial auf, übersteigert oder kommentiert sich und erfasst, gefesselt in Musik (Video und Musik Enno Seifried), die Zuschauer bei vollen Sinnen. Effektvoll das Begleitspiel der Figurenbewegung durch überdimensionale  Skelettbilder  (Animation Falk Johnke). Was ist es, fragt Faust, was uns im Innersten zusammenhält…?
Der Geheimrat hätte sein Frühwerk nicht weggeschmissen (das Manuskript wurde später zufällig in Abschrift entdeckt und geriet doch noch in Band 44 der Gesamtausgabe), wenn er geahnt hätte, was Regisseur Tilo Esche und Bühnenbildnerin Ulrike Schall mit heutigen Möglichkeiten daraus zu machen verstehen. Ja, sie griffen respektlos in das Material hinein und hatten ihren Spaß dabei. Den bekommen auch die Zuschauer – insbesondere mit Eva Kammigan in ihrer Marthe – ein großartiges Frauencharakterstück, in dem tiefe Tragik zu draller Komik mutiert. Bravo!
Herausragend auch der federnd durchs Geschehen manövrierende Tom Bartels als völlig unverdächtiger Mephisto. Er muss nie listig sein; Drogen und allzu menschliche Schwächen befördern sein Geschäft. Wagner (Friedrich Rößiger) weiß es und stellt still die Stühle zurück, nachdem der brave Student (schöne Rolle für Wolfgang Tegel) mit seinen viel zu kurzen Hosen (Kostüme Jernny Schall) seine Lektion ertragen oder das scharfe Lieschen (Eva Geiler) den Doktor heiß gemacht hat. Gretchen (Alrun  Herbing) tänzelt naiv aber nicht wirklich unschuldig von Bühne zu Bett und würde der Tragik kaum gewachsen sein, wenn hier die Videodramatik nicht atemberaubende Arbeit leistete. Ihr Königslied von Thule nimmt ihr übrigens Bruder Valentin ab, eine schön gebaute Heutigen-Rolle, die Mirko Warnatz mit Gitarre wirkungsvoll gestaltet.
Den Faust spielt Sebastian Volk (Jg. ‘88), der seit der letzten Spielzeit zum Senftenberger Ensemble gehört und hier seine bisher größte Aufgabe zu meistern hat. Esche hat diesen klassischen Held sehr jung besetzt, was den Studierstuben-Überdruss nicht tragen würde. In dieser jugendlichen Ungeduld aber funktioniert das. Volk drängt fast hektisch auf sein Ziel zu, treibt manisch voran, was ihm vorschwebt. Er kann sehr ausdrucksstark wortlos spielen, Dialoge aus dem Abseits mimisch kommentieren. Sein Faust ist ein ursprünglicher, in allen Phasen glaubhaft. Ganz stark der Einfall, ihn am Schluss nochmals die Anfangsworte sprechen zu lassen.
Diese Inszenierung ist ein außergewöhnliches, großartiges Bühnenereignis. Das erkannte und erfühlte auch das junge Publikum. Wer Theater mag, sollte diesen Senftenberger Ur-Faust (ohne Osterspaziergang) sehen. Nächste Termine sind am 31. März und am 12. April.         J. Heinrich

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