Es war das meistgebrauchte Wort jener Tage nach dem 9. November: Wahnsinn! Ein Ausruf begeisterter Sprachlosigkeit. Lange konnten die Menschen hüben wie drüben kaum fassen, dass es möglich wurde, diese Mauer zu überwinden, sich in die Arme zu fallen, alle Angst vor Schüssen zu vergessen, in alle Welt reisen zu können. Ohne Kalten Krieg und Stacheldraht. Wahnsinn! 34 Jahre sind vergangen. Die Menschen, die damals als Mauerspechte hämmerten und auch die, die Firmen gründeten oder sich beruflich neu orientierten, und selbst die, denen das damals alles zu schnell ging, haben die Sprache wiedergefunden. Mancher meckert, obwohl es vielen – längst nicht allen – besser geht als in der sozial gesicherten Mangelwirtschaft. Das geeinte Deutschland erblühte, wie es Kanlzer Kohl prophezeit hatte. Nicht ganz so schnell, aber doch Jahr um Jahr mehr.
Jetzt steckt das Land in einer tiefen Vertrauenskrise. Hier in der Lausitz, wo nur Schimpf und Schande zu hören ist für das, was ein Menschenleben lang gut und produktiv war, und darüber hinaus in der ganzen Republik, die sich von der Politik vergessen und von den Medien genarrt fühlt.
„Einigkeit und Recht und Freiheit“ steht im Lied der Deutschen, und niemanden nimmt das in Verantwortung, wobei doch „Lasst uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland“ wenigstens als Aufforderung zu verstehen war. Gehalten hat sich kaum jemand daran, aber wäre für dieses „Dienen zum Guten“, nicht eine Chance gewesen nach all den Jahren der Entzweinisse? War nicht Gelegenheit nach jenem 9. November Freiheit und Recht zu verbinden, die Russen wegzuschicken und ebenso die Amerikaner und mit beiden Freundschaft zu halten wie mit allen Völkern dieser Welt? Die Chance ist verpasst, und heute geht im Land am 9. November nicht mehr Freude um über des Glück jener friedlichen Revolution, sondern die Angst, dass der Mob den Geist des 9. November 1938 noch in sich spüren könnte. Das ist Wahnsinn! J.H.
Weitere Kommentare finden Sie hier!