Äthiopien im Jahre 2010 und mit eigener Uhrzeit
Auf Pücklers Spuren fanden wir im sudanischen Khartum (2016 in dieser Zeitung) die Mündung des Blauen Nil in den (Weißen) Nil. Der Fürst hatte damals seine rätselhafte Machbuba, eine abessinische Sklavin, zur Begleitung. Jetzt, hoch in den äthiopischen Bergen, in Abessinien also, sehen wir den Anfang des Flusses.
Die Monotonie der Dattelpalmen, die Pückler auf seiner Nilreise beklagte, findet hier oben auf etwa 1700 Metern nicht statt. Wir stapfen beim Dorf Tis Issat über unebenes Weideland. Wilde Feigen spenden Schatten. Über die Kath-Sträucher, als verbreitete Alltags-Kaudroge auch „Abessinischer Tee“ genannt (weil der Strauch täuschen ähnlich aussieht), schwirren Webervögel und schillernde Kingfisher. Richtig – der Wasserfall donnert ganz nahe. 42 Meter stürzt der Blaue Nil in die Tiefe. Ein einheimischer Junge führt uns bis fast unter den jetzt zahmen Fall. In der Regenzeit tost der Fluss auf 400 Meter Breite über die Felskante, und nichts hält ihn auf.
Obwohl der Blaue Nil weit mehr Wasser als der Weiße in den Sudan und weiter nach Ägypten bringt, gilt er als der Nebenfluss. Als einziger Ablauf des Tanasees hat er Bedeutung für drei Länder. Die Abessinier wissen es und bezeichnen ihre Hochlage stolz als den „Wasserdom Afrikas“. Noch um 1900 hatte Kaiser Menelik II. den Ägyptern zugesagt, dass das Wasser für alle Zeit ungehindert zu Tale geht. Seit die Länder ab 1959 unabhängig sind, gibt es immer wieder Händel. Heute konstatieren die Äthiopier, dass aus ihrer Natur 80 Prozent des ägyptischen Nilwassers kommen, sie selbst aber diesen Schatz kaum nutzen. Der Dialog dazu knistert.
Dabei haben die Äthiopier schon begonnen, Kraftwerke zu bauen und das Potenzial des Tanasees zu verwerten. Wir empfinden ihn paradiesisch. Große Pelikanschwärme streichen, in flachem Segelflug aufgereiht, übers Wasser, an einer Flachstelle tummelt sich genüsslich eine Hippo-Familie. Pückler hatte Nilpferde noch zwischen den Katarakten erlebt. Die gibt es dort nicht mehr, hier aber schon, und das Biotop steht unter anderem deshalb unter Schutz. Die Uferzonen sind voller Brutvögel, der Fischbestand ist vielfältig.
Nur wenige Schiffe tuckern über den See, steuern die etwa 20 Inseln und interessante Halbinseln an. Überall gibt es uralte Klöster, denn auch der See ist, wie der ganze äthiopische Norden, Heiliges Land. In seinem weitestgehend entwaldeten Einzugsgebiet leben drei Millionen Menschen, meist Kleinstbauern auf Halbhektarflächen. Bescheiden ernähren sie sich von dem, was die Natur gibt.
Es ist Sonntag, und die Arbeit ruht. Kinder spielen zwischen den Hütten, und auf Steinen kocht die Hausfrau in einfachem, selbstgebrannten Keramikgeschirr das Mittag. Am See leben die Leute als Fischer und werfen aus ihren kleinen Papyrusbooten die Netze aus. Junge Leute versuchen sich im Tourismusgeschäft und wollen Tücher und geflochtene Waren verkaufen. Aber es gibt weit mehr Verkäufer als Touristen, und so bleiben die Erfolge spärlich.
Passagierboote sind zum Teil noch italienischer Bauart. Die kurzzeitigen Besatzer versenkten sie 1941 vor ihrem Abzug; die Einheimischen hoben sie und nutzen sie noch heute. Ziel der Fahrgäste sind die einsamen Klosterkirchen mit ihren wunderschönen naiven Malereien.