Kommentar: Im schönen Maien

„Im wunderschönen Monat Mai, Als alle Knospen sprangen…“ Jaah, da ist bei Heine die „Liebe aufgegangen.“ Und wie er haben alle Dichter diesen Monat besungen. Jedenfalls bis in jenen Mai vor 78 Jahren. Da war etwas Epochales geschehen: die Waffen schwiegen. Endlich. Aber Lust und Freude im Herzen hämmerte da kaum. Der Kummer war groß und auch die Scham. Die Deutschen, unsere Groß- und Urgroßeltern, waren nicht in der Lage, diesen Krieg, der ihnen längst entglitten war, aufzuhören. Das mussten andere mit ebenso scheußlicher Gewalt besorgen. Und als alle Knospen sprangen, war es endlich soweit.
Und heute, im schönen Monat Maien? Da ist wieder wenig Freude, aber viel neue Ursache zu Scham. Wir sortieren die Rotarmisten von einst nach ukrainischen Helden und weniger werten Russen und wundern uns, dass die Kinder in den Schulhäusern den Hitlergruß schreien. Die Radio-Features im Abendprogramm handeln vom deutschen Heer, dem heutigen, heldenhaften, und wer rausrennt, weil er’s nicht hören kann, steht womöglich an der Schranke und sieht Munitionszüge ostwärts rollen. Nacht für Nacht. In diesem schönen Monat Maien. Viel ist da falsch gelaufen, eigentlich alles. Obwohl doch Kohl und Genscher damals versprochen hatten, das Militärbündnis nicht zu verschieben und später Richard von Weizsäcker endlich die Befreiungsleistung der sowjetischen Armeen gewürdigt hatte, die der Ukrainer, Russen, Armenier, Georgier, Kasachen, Tadschiken, Usbeken und so weiter. Wir haben kein Recht und keinen Anlass, die zu sortieren, zu spalten. Unsere weitblickende Maienlust sollte allein darauf gerichtet sein, all deren Anderssein und Stolz zu tolerieren und ihnen wie uns selbst zum Frieden zu verhelfen. Unsere Vorfahren haben das nicht für sich geschafft. Uns kann heute Besseres möglich werden.
Von all den Knospen, die sprangen, sind nur verdammt wenige als Blüten da hingelegt worden, wo das gut täte – an die Gräber der Gefallenen. Im schönen Monat Maien 2023. J.H.

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