Brahma, Vishnu, Shiva, Marx und Mao – Götter & Götzen im südlichen Subkontinent (I) Notiert und fotografiert von Petra und Jürgen Heinrich
Wer zählt die Götter, nennt die Namen?
Zu verstehen ist die Glaubenswelt der Hindus kaum – aber sie entspannt
Bharat Ganarajya heißt das Land in Hindi, Republik Indien. Ein Drittel der Größe Europas und fast doppelt so viele Menschen: 1,4 Milliarden. 80 Prozent sind Hindus; es gibt auch Muslime, Christen, Sikhs, Buddhisten, Jainas, Parsen und Juden. Die Mischung variiert regional stark, aber überall kommen die Leute gut miteinander aus – in einem der 29 Bundesstaaten sogar mit den Kommunisten, die dort seit 60 Jahren höchst erfolgreich regieren. Das geschieht weit im Süden, wo Fremdlinge selten auftauchen. Ein Grund mehr für diese weite Tour.
Über Abu Dhabis Wüste fliegen wir der Sonne entgegen, erreichen Chennai (6,5 Millionen Einwohner) am Bengalischen Golf zu Mitternacht. Weder die Weißen Tiger im Zoo noch die Karriere in der britischen Ostindien-Companie, als die Stadt noch Madras hieß, interessieren uns. Es gibt Tempel aus dem 16. Jahrhundert zu sehen, wie sie der Süden in Hülle und Fülle bietet. In verzweifelter Sehnsucht nach Systematik fahren wir in die Vorstadt. Mahapalipurham (oh Gott, diese Namen! auch Mamallapuram sei gültig, heißt es) ist hier das Mekka für Archäologen. In der Pavalla-Zeit (Mächtige im 7.-9. Jh.) schufen Steinmetze kunstvolle Reliefs von großer erzählerischer Kraft. Weder Paläste noch schlichte Wohnstätten sind überliefert – nur diese Gebete in Stein.
Sie lassen uns sprachlos staunen, diese Hindus mit ihren Götterscharen. Sie ehren nicht EINEN Hauptgott und lesen kein Testament – sie preisen Götterscharen. Tausende. Oder Millionen? Niemand weiß es oder will es wissen. Alles ist Gott. Nicht selten hören wir die Auffassung, der Hinduismus sei gar keine Religion, sondern schlicht eine Lebensart. Wie auch immer: Ein Milliarden Menschen leben diese Art, die sich als Mischform verschiedener Religionen vor allem im Subkontinent (auch Nepal) verdichtete. Ob Brahma (der Schöpfer), Vishnu (der Erhalter) oder Shiva (der fröhliche Zerstörer) oder deren Familienangehörige – besonders beliebt ist Ganesha, der dicke Erfolgsbringer mit Elefantenkopf, ein Sohn Shivas und seiner Parvati – sie sind alle keine Donnergötter, sondern machen meist Liebe und inspirieren die Menschen sanft, gelassen, freundlich.
Unter Indiens vielen Widersprüchen ist dies der erstaunlichste: Vielen fehlt es am Nötigsten, aber niemals streifen uns, die vergleichsweise Reichen, Blicke der Begehrlichkeit oder des Neides. Vor Straßenkriminalität muss nicht gewarnt werden. Es gibt sie (fast) nicht. Das hat mit den (offiziell nicht mehr gültigen) Kasten zu tun. Neben den vier Sozialgruppen (Priester / Krieger / Besitzende / Lohnarbeiter) gibt es unzählige Berufs- und Bedarfskasten. Ganz unten, von allem ausgeschlossen darben mittellos die „Unberührbaren“. Gerade setzt sich lokales Mühen durch, ihnen, die nur die dreckigsten Arbeiten fast ohne Lohn tun, den Zutritt zu den Tempeln zu erlauben. Selbst der Ur-Hinduismus ist lernfähig.
Uns wird er mit den Menschen, die sich in den Ritualen treiben lassen, von Tag zu Tag sympathischer. Dieses unkomplizierte Sein. Auf geht’s also – von Tempel zu Tempel…
In der nächsten Folge:
Gottes eigenes Land
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