Leserbrief: Besser geschwiegen

Unser Leser Jürgen Rohde aus Cottbus meint:
Der Kommentar vom 3.10. erfordert einige Bemerkungen. Das Thema ist ja der Tag der Republik (früher hieß er so), Tag der Einheit, Ende der Teilung nach 75 Jahren. Wie kann man schreiben: Es gibt nichts zu feiern!
Die Wahrheit ist: Nicht der Fall der Mauer brachte die Einheit an einem 9. November, an diesem Tag ereignete sich, veranlasst durch ein Versehen des gestressten Schabowski in der abendlichen Pressekonferenz, die langersehnte Öffnung des sogenannten  antifaschistischen Schutzwalls. Niemand konnte ahnen, welchen Domino-Effekt diese Aktion im Gefolge hatte. Plötzlich hatten alle jahrzehntelang wiederholten eingeübten Sprechblasen ihre Bedeutung verloren. Westberliner Polizisten und DDR-Grenzsoldaten reichten sich sogar die Hände (im TV dokumentiert), die ersten wagemutigen Mauerspechte kamen mit Hammer und Meißel, was noch am 8. November Lebensgefahr bedeutet hätte. Die Lawine war nicht mehr aufzuhalten, die Ideologen kamen ins Grübeln. War da noch was? Da war noch vieles! Es kam die Wahl am 18. März 1990, es kamen die Gespräche der ehemaligen Siegermächte, es kamen die 2+4-Verhandlungen aller Beteiligten  einschließlich DDR und BRD.
Und am vorläufigen Ende stand dieser 3.Oktober, und die beiden Teile eines ehemals säbelschwingenden Staates, besiegt bis in die Grundmauern, mussten sich etwas neues ausdenken, was nicht ohne Fehler und Verletzungen ablief und weiterhin abläuft. Wie kann man im Kommentar von “politischem Fallobst” sprechen? Absurder geht es kaum. Wir alle wurden Zeugen eines Jahrhundertereignisses, von dem niemand gedacht hätte, dass es sich zu Lebzeiten realisieren würde. Bürgerfeste unter Corona-Zeiten müssen nicht riesig sein, Bescheidenheit ist eine solide Tugend, Potsdam als ehemalige Residenz preußischer Sparsamkeit bot eine gute Anschauung in angespannten Zeiten.
Für den Kommentar gilt m.E. das alte Sprichwort: si tacuisses, philosophus mansisses, hättest du geschwiegen, wärest du ein Philosoph geblieben.
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