Winston Churchill brachte es auf den Punkt: „Politiker denken an die nächste Wahl, Staatsmänner an die nächste Generation.“ Leider sind uns die Staatsmänner in der Politik abhandengekommen.
Während jeder im Grundstudium der Politikwissenschaften lernt, dass man immer und unter allen Umständen im Gespräch bleiben muss, wird dies gegenüber Russland jetzt negiert. Wo sind sie hin, die 1989er Träume und russischen Vorschläge von einem gemeinsamen Haus von Lissabon bis Wladiwostok? Als bekennender Europäer muss man konstatieren: Es ist nicht gelungen. Die voreilige Anerkennung von Staaten führte gar zu kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan, wie der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher kurz vor seinem Tode eingestand.
Die Aufarbeitung der jetzigen globalen Ereignisse muss künftigen (objektiven) Historikern und Politikwissenschaftlern überlassen werden. So wie Christopher Clark erst 2012 – 100 Jahre später – in „Die Schlafwandler“ sehr detailliert die Ereignisse kurz vor dem ersten Weltkrieg analysierte und zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen ist.
Was bleibt uns zu tun? Wir müssen die zivilen beruflichen und privaten Verbindungen auch nach Russland aufrechterhalten. Trotz Verboten aus Ministerstuben. Wenn Wissenschaftlern Projekte verboten oder Unterstützungen versagt werden, sobald ein russischer Name auftaucht, ist die gepriesene Freiheit der Wissenschaften in Deutschland nichts mehr wert. Es bedarf gerade jetzt der Wissenschaftler und Kulturschaffenden so dringend wie selten zuvor. Sie sind diejenigen, die mit und für die nächste Generation arbeiten, also im Sinne von Churchill die wahren Staatsmänner und -frauen. Die Zivilcourage gebietet, jetzt künftiges Zusammenarbeiten vorzubereiten bzw. bestehende Kontakte zu erhalten. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass im menschlichen Miteinander schnelle Ergebnisse zu erzielen sind. Archäologen und Historiker können das Gegenteil, z. B. in der Lausitz, nachweisen. Auch Altkanzler Helmut Schmidt wusste noch, dass es langer Zeiträume bedarf, bis es zu einem wirklichen Miteinander kommt, bis sich Verhaltensmuster ändern, bis Vertrauen geschaffen ist. Wie eng Beziehungen sind, hängt immer von den agierenden Menschen ab. Demzufolge ist auch immer ein gesunder Abstand zu wahren. Die derzeitigen Erosionen innerhalb der EU sind letztlich das Ergebnis von „zu viel – zu schnell“.
Wo liegen die die Interessen der Slawenburg Raddusch in Bezug auf Russland? Was ist das Ziel? Diese Fragen erreichten mich in den letzten Tagen häufig. Im Puschkinmuseum in Moskau lagern als Kriegsbeute des 2. Weltkrieges archäologische Artefakte aus der Lausitz. So zwei bronzene Kultwagen aus Burg/Spreewald, die einst im Besitz von Rudolf Virchow waren. Es geht nicht um die Rückführung der Wagen, sondern um die permanente Ausstellung und Zugänglichkeit, der im Moskauer Archiv befindlichen Stücke. Damit Wissenschaftler sich intensiver mit der Frage des Zwecks und dem Verbreitungsgebiet solcher Wagen beschäftigen können. Dazu wird von der Staatlichen Universität Kursk und der Slawenburg Raddusch ein gemeinsames Forschungsprojekt entworfen, welches im Herbst dem Kulturministerium in Moskau vorgestellt werden soll. Perspektivisch kann so ein kulturtouristischer und wissenschaftlicher Austausch intensiviert werden: Wir haben die Fundplätze – Moskau hat die Funde. Also besuchen wir uns gegenseitig, halten die Kontakte aufrecht. Ein Plan für die Zukunft. Aber nicht ohne Tradition. Denn als die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1878 wieder einmal unter Führung von Rudolf Virchow eine Exkursion in die Lausitz unternahm, war erstmals eine Dame mit anwesend. Diese begeisterte die 90 anwesenden Männer durch Wissen und Eloquenz derart, dass Hugo Jentsch im Luckauer Kreisblatt schrieb: „Eine bisher ungewohnte Erscheinung bei derartigen Exkursionen war eine Russin, der bald alle anthropologischen Herzen zuschlugen; … heute war alles russophil.“
Beim festlichen Empfang zum Nationalfeiertag in der Russischen Föderation kam es dahingehend am 10. Juni 2022 zu einem intensiven Gespräch mit der Ersten Botschaftssekretärin und Leiterin des Kulturreferats der Botschaft der Russischen Föderation, Frau Alexandra Kachalova. Wir konnten ehrlich über Schwierigkeiten und Chancen sprechen. Am Ende wurde aus einem „Wir hoffen!“ ein „Wir machen!“. Der Austausch eines Wortes birgt eine Vision in sich. Vielleicht werden die bronzezeitlichen Kultwagen aus Burg zum Friedenssymbol?
Von Jens Lipsdorf
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