Ein Unternehmer mit Leib und Seele

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Bis heute hütet Heinrich Hagen seine Tasche, in der er die Geschäftseinnahmen einst zur Bank schaffte Foto: TRZ

Spremberger Heinrich Hagen führte fast vier Jahrzehnte Textilgeschäft in der Langen Straße:
Spremberg (trz). Es hätte so schön werden können, damals im Jahr 1986: Nämlich die 100. Wiederkehr der Gründung des Textilgeschäftes Hagen. Entstanden im niederschlesischen Liegnitz, seit 1925 in Spremberg.  Doch aus dem Jubiläum wurde nichts. Denn vor nunmehr genau 40 Jahren, im Herbst 1985, musste der Laden in der Langen Straße 27 seine Pforten für immer schließen. Warum, erklärt der letzte Inhaber Heinrich Hagen so: „Eigentlich wollten wir uns damals vergrößern. Allerdings wurde dieses Ansinnen von Staatswegen abgelehnt. Denn wir galten im Bezirk Cottbus als kleinster Laden mit dem größten Umsatz.“ Das war dem SED-Staat natürlich ein Dorn im Auge. Privates Unternehmertum war unerwünscht. Dass es in den staatlichen Geschäften stetig viele Artikel nicht gab, steht dabei auf einem anderen Blatt.
So war jedenfalls die 100-Jahr-Feier bei den Hagens gestorben. Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. „Unser Familienunternehmen wurde im Jahr 1886 in Liegnitz von meinem Großvater gegründet“, berichtet Heinrich Hagen, der mit seinen 96 Jahren zu den ältesten Sprembergern gehören dürfte. Später kam ein weiteres Geschäft in der „Perle der Lausitz“ hinzu. Warum? „Weil meine Großmutter aus Spremberg stammte“, lautet die plausible Begründung. In den Jahren 1924/1925 zog dann die ganze Familie an die Spree. Zunächst lud das Textilgeschäft in die Dresdener Straße ein. Seit 1933 bildete dann die Lange Straße 27 die Heimstätte. Heinrich Hagen erlernte unter dem damaligen Spremberger Bürgermeister Kaulbars den Beruf eines Verwaltungsangestellten. „Bei mir wurde die Lehre wegen guter Leistungen um ein Jahr verkürzt“, erinnert sich der heute 96-Jährige schmunzelnd.
Während des Zweiten Weltkrieges kämpfte er über vier Jahre an der Ostfront, unter anderem auch in der mörderischen Schlacht vor Moskau Anfang Dezember 1941. „Bei minus 51 Grad froren unsere Autos ein“, sagt Heinrich Hagen. Im März 1945 wurde er am Knie schwer verletzt. Im Lazarett schnitzten zwei polnische Krankenschwestern dem Spremberger zwei hölzerne Krücken. Über Kopenhagen, Aschersleben und Bayern kehrte Hagen im Oktober 1945 in seine Heimatstadt zurück. „Dort war ich einer der ersten Arbeitslosen“, erzählt Heinrich Hagen. „Denn bei der Stadt durfte ich nicht mehr arbeiten.“ Beim Schwiegervater war er dann eine Zeit lang als Dachdecker tätig.
Im Jahr 1947 gab es endlich von der Stadt die langersehnte Genehmigung für die Wiedereröffnung des Geschäftes. Im gleichen Atemzug stieg Heinrich Hagen in die Firma, die damals sein Vater führte, ein. Neben Textilien gab es dort anfangs Döberner Glaswaren.
Waren zugeteilt
Mit dem Sortiment war es zu sozialistischen Zeiten so eine Sache. „Uns wurden die Waren von Leipzig aus zugeteilt“, sagt Heinrich Hagen. Zudem sah sich der Unternehmer gezwungen, in der ganzen Region nach weiteren Produkten Ausschau zu halten. Krawatten und Hosenträger beispielsweise wurden aus Sachsen nach Spremberg geholt. Erst in den 1950er-Jahren begannen Vertreter, neue Waren anzupreisen und an die Einzelhändler zu veräußern.
Mitte der 1980er-Jahre verfolgte die Spremberger Unternehmerfamilie den Plan, dass Heinrich Hagen seinen wohlverdienten Ruhestand antritt und die Schwiegertochter das Geschäft, dann bereits in vierter Generation, übernimmt. Doch der Staat wollte es anders. Der Laden ging an die staatliche Handelsorganisation (HO) über, eine der beiden Verkäuferinnen wurde dort weiterbeschäftigt. Insgesamt hatte das Team bis zur Aufgabe des Geschäftes im Jahr 1985 vier Personen umfasst, nämlich zwei Verkäuferinnen sowie Heinrich Hagen und dessen Frau Gertrud.
Neben dem Geschäft hatte sich der Unternehmer mit Leib und Seele dem Motorsport verschrieben. Legendär waren beispielsweise die in den 1980er-Jahren in der Friedrichstraße organisierten K-Wagen-Rennen. Bis heute ist Heinrich Hagen Ehrenmitglied im von ihm mitgegründeten MC Spremberg. Nicht zuletzt gehe auch die Organisation der legendären Grützwurst-Rallye, die es bis heute gibt, auf den Spremberger zurück. Übrigens: Bereits im Alter von zehn Jahren radelte Heinrich Hagen mit seinem Vater in 14 Tagen von Spremberg nach Eisenach und zurück. Später wollte ihm der Lehrer solche „Gewalttouren“ untersagen. Die Begründung: mögliche Überanstrengung.
Öfter aufs` Rad
Heute steige der 96-Jährige nicht mehr auf’s Rad. Dennoch sei er häufig in seiner Heimatstadt auf Achse. Bedauerlich findet der Unternehmer, dass immer mehr kleine Einzelhändler von den großen Ketten kaputtgemacht werden. Nicht zuletzt sei es schade, dass nach der Wende der langgezogene Wohnblock in der Dresdener Straße nicht mehr mit Geschäften versehen wurde. Sohn Helmut Hagen, Stadtverordneter von 1987 bis 1998, hatte sich vehement dafür eingesetzt. Was sich heute im einstigen Textilladen der Familie Hagen befindet? Das Fachgeschäft von Christina Zippack.