Holetzecks „Iphigenie“ in Senftenberg: das Ende der Machtspirale

Anmerkungen zu einem weiteren Klassiker in der Regie des einstigen Cottbuser Schauspieldirektors.

Iphigenie
Johann Wolfgang von Goethes „Iphigenie auf Tauris“ hatte an der neuenBühne in ganz klassischer, choreografisch verstärkter Lesart Premiere. Das auf ein Viertel des Möglichen corona-reduzierte Publikum zeigte sich tief berührt von Bildern und Sprache in der Regie von Mario Holetzeck. Es spielten (v.l.): Daniel Borgwardt (Arkas), Robert Eder (Orest), Marianne Helene Jordan (Iphigenie), Heinz Klevenow (König Thoas) und Tom Bartels (Pylades) Foto: Steffen Rasche

Senftenberg. Er hat noch viel zu sagen, dieser Theatermann in den besten Jahren, dieser Mario Holetzeck, von dem aus elf Cottbuser Jahren als Schauspieldirekter und Regisseur Büchners „Woyzeck“, Shakespeares „Hamlet“, zwei Ur-Aufführungs-Abende mit Strittmatters „Laden“ und viel anderes in Erinnerung blieben. Inzwischen inszenierte er in Braunschweig, Dessau, Potsdam, Bautzen und Rudolstadt und machte in der letzten Spielzeit mit einem glasklar sortierten Klassiker an der neuen Bühne auf sich aufmerksam: „Kabale und Liebe“ von Schiller, gradlinig, fesselnd gespielt auf schräger Bühne von Linda Kowsky, die ihm auch jetzt wieder, diesmal kubistisch, zur Verfügung steht. Holetzeck kann etwas, das Kräfte freisetzt, Zügel löst: Er begeistert und motiviert umarmend, kennt keinerlei intellektuelle Distanz.
Die „Iphigenie“ ist ein Jahrtausend-Stoff, mit dem sich auch Goethe lange quälte. Wird es je möglich sein, die Spirale von Macht und Gewalt allein durch charakterliche Größe, durch weibliche, fast jugendliche Klugheit gar, aufzuhalten? Nichts schien wichtiger (und unmöglicher), als der Dichterfürst lebte im aufgeklärten Weimar und hellen Italien,
nichts ist heute wünschenswerter als Frieden in Europa, der Welt und in jedem Mikrokosmos.
Die Senftenberger Inszenierung in der Premiere vor etwas mehr als 70 Zuschauern gemäß Hygienekonzept donnert martialisch per Trommeldröhnen, Kriegertanz und Lichteffekten von der Leinwand ins Parkett. Der Videoeinsatz komprimiert die Hintergrundaussage, vor der die einzelnen Figuren sich sprachlich genau in den Worten, aber auch in der Sprache des Tanzes artikulieren. Die Cottbuser Choreografin Gundula Peukert lässt gestisch ablaufen, wie kompliziert die Gefühlswelten fechten, bevor überlegte Worte in Fluss kommen.
Iphigenie (Marianne Helene Jordan) kam zufällig auf die Insel des Königs Thoas (Heinz Klevenow), gewann an Einfluss und schaffte die Todesstrafe ab. Die aber droht nun Orest (Robert Eder) und seinem Jugendfreund Pylades (Tom Bartels), die auf der Suche nach der Schwester und Landsmännin (Iphigenie nämlich, was sich erst später enthüllt) unerlaubt in das Land der Taurer vorstießen.
Der alte, im Grunde gütige König Thoas (Heinz Klevenow) will Iphigenie zur Frau, weil er die seine und den Prinzen verlor. Das Reich braucht einen Herrscher.
Alle Motive, bis auf die des miesen Arkas (Daniel Borgeward), sind im Grunde rechtschaffend und bergen doch das Zeug zum schlimmen Ende. Wird Iphigenie einer Verlockung folgen, am Ende käuflich sein?
Im Hintergrund klärt sich in beängstigend nahen Großaufnahmen ihr Schicksal. Ihr Vater Agamemnon war, um  einen  verheerenden Krieg von seinem Volke abzuwenden, bereit, seine junge Tochter (Natalie Soubeyrand) religiös zu opfern. Seine Frau Klytaimnestra (Catarina Struwe), der entging, dass es nicht zu diesem Opfer kam, tötete ihren Mann. Orest rächte den Mord und tötete seine Mutter.
Diese Kette von Bluttaten und neuen geplanten schien unvermeidbarer Alltag in einer Welt von Macht, Gier, Rache und Besessenheit. Normalität.
Unspektakulär, ganz „normal“ lebt Iphigenie dagegen an. Marianne Helen Jordan verkörpert eine  selbstbewusste Frau, die nicht an ihren Privilegien als Priesterin hängt und nicht auf Stolz besteht. Eher zurückhaltend befragt sie ihr Inneres, stellt sich der unumgänglichen Wahrheit. Der Thoas des nun 80jährigen Klevenow ist nicht gerührt, sondern erkennt die Logik und gibt Iphigenie und die Jünglinge frei. Die haben sich unterdessen ausgetobt als abenteuerbesessene Kraftmeier und, beide großartig in ihren jeweiligen Szenen, zeigen Einsicht. Nur Daniel Borgwardt als Arkas zischt boshaft: „Tötet sie alle!“. Von Goethe hat er den Satz nicht, meine ich.
Mitten im Stück fallen alle fünf Protagonisten aus ihren Rollen, plaudern ganz zivil und auf Abstand über die kuriose Situation mit ihrem Publikum. Hey, wir sind hier nicht bei den alten Griechen. Oder vielleicht doch?
Applaus, soviel eben ging! Sehr sehenswert. J.Heinrich

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