Philharmonisches Konzert, schwungvolle Operette und literarisches Ballett an einem prallen Premieren-Wochenende im Großen Haus des Staatstheaters.
Cottbus. Drei aufeinander folgende Abende im Großen Haus des Staatstheaters begannen letztes Wochenende (19/20.06) auf fast gleiche Weise, wobei nur der erste ein leichtes Holpern spüren ließ. Nach acht Monaten Spielpause hatte die Feuerwehr den Vorstellungsbeginn verpasst. Und ohne den Mann der Wehr darf sich kein Vorhang heben. Der Floriansjünger fand seinen Sitz dann gerade noch rechtzeitig, und Intendant Stefan Märki konnte sich die Krücken zum Abstieg von der Bühne reichen lassen. Der Chef des Hauses hat sich in der Corona-Pause die Verletzungsfolgen eines Skiunfalls reparieren lassen und zeigte sich nun doppelt erleichtert: fast ausgeheilt und glücklich, „die Normalität als etwas so außergewöhnlich Schönes“ zu erleben. Während in den Freilichtprogrammen im Kasernenhof die Coronaregeln weitestgehend gelockert sind, durfte das wunderschöne Jugendstilhaus seine Kapazität nur die knapp einem Drittel auslasten. Wer Glück hatte dabei zu sein, erlebte Schönes, zum Teil Unvergessliches.
Ganz sachte: Bruckners Achte
Am Freitagabend eröffnete das Philharmonische Orchester unter seinem Chef, GMD Alexander Merzyn, das lange Kunstwochenende mit „einer widerspenstigen Dedikation“, so der unverständliche Titel des 8. Philharmonischen Konzerts. Dedikation lässt sich per Nachschlag oder Blick ins Handy-Internet als „Zueignung, Widmung“ aufklären. Im Titel eines Konzerts aber steht es fehl am Platze.
Die vier Sätze dieses gewaltigen Werkes (Anton Bruckners letzte vollendete Sinfonie; die neunte wurde nicht ganz fertig) in c-Moll entwickelt schon im Allegro moderato des I. Satzes großer Wucht, aber auch extrem sanfte Partien. Sacht, sachte, gibt Merzyn immer wieder vor, und geht, die linke Handfläche nach vorn drückend, fast auf die Knie, um alsbald wieder, mit beiden Armen weit ausholend, zur Furore zu treiben. Wie die Streicher schuften! Und am Schluss hebt sich das helle Blech ins jubilierende C-Dur.
Gespielt wurde die 1892 in Wien uraufgeführte 2. Fassung der Achten, und möglich wurde sie in Cottbus durch eine erhebliche Anzahl an Gästen, denn von vorn links und zur Mitte hin hatte Merzyn 26 (!) Violinen platziert, dazu zehn Bratschen, acht Chelli und vier Kontrabässe. Zudem jede Menge Holz und Blech, Schlagwerk und zwei Harfen. Im Ganzen 82 hervorragende Musiker.
Es blieb ein Weilchen still nach dem glanzvollen Finale. Dann gab es lange anhaltenden Beifall. Hörner und Posaunen durften sich mehrfach erheben. Bravo!
Witwenspiel in Notre Dame
Leichte Kost am Samstagabend, manchmal zum Mitsingen verführend, die schöne Lehár-Operette „Die lustige Witwe“. In der Titelrolle bewegte sich sehr sparsam, eine großartige Konzertstimme ausstellend, Sophie Klußmann als Gast. Ihr sentimentales „Vilja“-Lied ließ alle Seelen schmelzen. Aber das Heft des Handelns, wie sich das die Emanzipations-Deuter vorstellen, nimmt sich nicht revolutionierend in die Hand. Mittelpunkt ist ein schön spontan agierender Nil Stäfe als Baron Zeta. Seinem Mitgesandten Graf Danilo nimmt man nicht ab, dass er dem Pariser Nachleben gewachsen sei und die leichten Damen allesamt beim Namen kenne. Zu brav hält sich Daniel Foki, ein neuer Bariton im Ensemble, in der Gesellschaft auf. Wegen des Geldes soll er zum Wohle seines Balkanländchens die Witwe ehelichen, mit der sich der Rittmeister, der nicht mal auf einem Dekopanther gerade sitzen kann, schon früher näher gekommen war. Auch Geogina Melville als Zetas Frau, die vor Camiles (Hardy Brachmann) Zuneigung flüchtet, singt schön, bleibt aber leise. Überhaupt fehlt dem Pariser Gastleben Pfeffer, was wohl an der langen Lagerzeit des Stückes liegt. Es wurde schon im letzten Jahr erarbeitet und nun ohne Generalprobe zur Premiere gebracht.
Vom Regieteam, das sich an diesen Job wohl kaum noch erinnert, war keiner angereist. Inszeniert hat das Stück Felix Seiler, die Bühne hat Nikolaus Webern geschaffen – ein Kunstwerk für sich, als Witwen Kulisse aber kaum nutzbar. Niemandem lässt sich erklären, warum die Damen und Herren dauernd durch einen Kamin ins Nachbarzimmer und zurück kriechen müssen. Ab dem zweiten Bild ist die Bühne vollgestellt mit in Cristo-Manier verhüllten Paris-Wahrzeichen: Eiffelturm, etwas größer Arc der Triomphe, der sich später zur Varieté-Bühne öffnet, Notre Dame als kleiner Liebes-Pavillon und die Moulin Rouge-Mühle. Kann man alles machen, geht aber auch besser. Gut eingebunden in Einzelrollen sind Chormitglieder (Einstudierung Christian Möbius), und Choreografin Andrea Danae Kingston hat die älteren Herren köstlich das Gieren und Stolpern gelehrt. Die Kostüme (Linda Schnabel) sind operettengerecht. Johannes Zurl dirigiert ein geschrumpftes Orchester nach Abstandsregel und ist der wesentlichste Schwungerzeuger dieses Abends. Dem Publikum hat es sehr gefallen.
Ungehört getanzte Sonette
Am Sonntagabend dann Ballett. Weil sie in atemberaubender Leidenschaft getanzt und zudem noch in ein weiteres Medium wechselten, hätte man gern einem der Sonette in englischer oder deutscher Sprache gelauscht. Gut, im Programmheft konnten drei aus den aufregendsten über 150 teils hocherotischen Gedichten erblättert werden, aber dazu war erst viel später Gelegenheit. Alle Aufmerksamkeit nahm – und zwar restlos – dieses Tanzen zu Beethoven-Variationen und Musik neuerer Meister in Anspruch.
Die Choreografie und zugleich ein frappierendes Videodesign hat Jörg Mannes geschaffen. Allein mit dem Thema aus einem Stück Weltliteratur, das von vielerlei Mysterien umgeben ist, treten den Tänzerinnen und Tänzern größte Herausforderungen entgegen. Enorme Kraft ist vonnöten, um Ideen und Emotionen spielerisch leicht auf die Bühne zu bringen. In diesem Falle war das außerordentlich schwer, denn der Ballettabend, von dem Ausschnitte schon im Internet zu erreichen waren, entstand unter ähnlichen Bedingungen wie die Sonette selbst. 1609 soll sie Shakespeare geschrieben haben, als die Pest in London wütete und jedermann das Eingesperrtsein vorzog. Corona hat unsere Jetztzeit über viele Monate gelähmt, und dabei nun war das Stück auf Abstand zu erarbeiten. Ja, es fehlt der Uraufführung etwas. Statt schöner Bilder in Paaren und mit hohen und weiten Sprüngen gibt es Kopf- und Handstände und allerlei Akrobatik am Boden und an Geräten.
Die Tänzerinnen Alessandra Armorina, Emily Downs, Andrea Masotti, Annalisa Piccolo, Denise Ruddock, Venira Welijan und die Tänzer Alyosa Forlini, Stefan Kulhawec, Mario Barcenilla Rubio und Simone Zannini zeigen rasante Figuren, erfinden sinnliche, manchma packende Worte ihrer Sprache der Körper, eng angeschmiegt an die gefühlvolle Musik. In Erinnerung bleibt das Lieben und geliebt Werden von Stefan Kulhawec und Alessandra Armorina oder das umstürzlerische nun doch Berühren im zwölften Bild von Simone Zannini und Alyosa Forlini. Für ihr Solo „Doch fürchte sie, Du Diener ihrer Lust“ deutete sich für Emily Downs Zwischenapplaus an, doch der war weder erwünscht noch möglich, denn die Sonette werden so eng gebunden vorgetragen, dass sie ineinander fließen wie ein Fluss in flachen Wiesen. Da ist kein Beginnen und scheinbar kein Enden. Wo noch ein Tänzer verweilt oder mehrere sich schwingend bewegen, tritt schon das Gesicht des neuen Gedankens in die Szene. Das bleibt pausenloser Genuss bis zuletzt, und dazu gibt Videodesigner Jörg Mannes technische Sahnehäubchen hinzu, die das Erlebnis beträchtlich erweitern. Vieles davon kommt witzig daher, manches einfach nur erstaunlich und gelegentlich auch etwas bedrohlich. Anfangs sind es nur Schattenspiele an den weißen Flächen eines Raumwinkels – aber wie entstehen dann weiße bewegte Schatten auf dunkler Fläche? Unversehens tritt das Medium Film ins Geschehen und nimmt die leibhaftig Tanzenden weg vom Bühnenboden, lässt sie Wände hinauf tanzen, vervielfältigen und immer wieder Grenzen überschreiten. Nein, kein Spektakel – alles in beglückender Harmonie und göttergleicher Anmut.
Ein wunderbares Ballett. Der Applaus toste noch und noch wie im vollen Haus. J. Heinrich
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