Cottbus (h.) Spiritus loki – vom Geist des Ortes inspiriert führen Stadtspaziergänge des Staatstheaters Cottbus durch ein reichliches Cottbuser Jahrhundert. Der Titel der Veranstaltung lautet „Cottbuser Nocturne“, was auf Dunkelzeiten hindeutet, in denen auch in dieser Stadt jüdischen Menschen Schlimmes widerfuhr. Den Hintergrund des Geschehens bilden Aufzeichnungen der Tochter des Modehausbesitzers Arnold Schiesser. Die Familie wohnte zu guten Zeiten in der Bahnhofstraße 49 (die zu keiner Zeit Kaiserstraße hieß). Das noble Kaufhaus nahm in der südwestlichen Sprem drei Häuserfronten (Nr. 26 bis 28) ein. 1933 verkaufte Schiesser (sein Partner Brummer war Anfang der 20er Jahre verstorben) das Unternehmen an seinen Geschäftsführer Theo Czaja und Friedrich Langer. Unter dem Namen Langer gab es das Geschäft an gleicher Stelle noch bis 1960.
So könnte es also auch Hilde, nun mit dem Nachnamen Angarowa, 1957 bei ihrem Besuch in Cottbus wiedergefunden haben. Die Spuren ihres Vaters hingegen führten in eines der sechs „Judenhäuser“, in denen die letzten etwa 120 jüdischen Bürger zwangsweise wohnten. Wir finden den „Rentner Arnold Israel Schießer“ 1940 in der Kaiserstraße 5, heute R.-Breitscheid-Straße.
Hilde, 1908, im Jahr der Theatereröffnung, geboren, zog nach Berlin, wo sie den russischen Kommunisten Angarow heiratete und mit ihm nach Moskau zog. Vater und Kinder wurden dort Opfer der stalinistischen „Säuberungen“. Hilde Angarowa blieb im Land, wurde Übersetzerin russischer Märchen und hatte Sehnsucht nach Johannes R. Becher, mit dem sie einst eine Affäre hatte, und nach Cottbus, ihrer Heimatstadt. 1957 entschloss sie sich zu einer Reise hierher und bat Becher, den Texter der DDR-Nationalhymne, der inzwischen Kulturminister war, sie auf dieser für sie schweren Fahrt „an die Hand zu nehmen“. Das tat der prominente Dichter tatsächlich, und so hinterließ Hilde Angarowa aus jener Zeit Tagebuchaufzeichnungen aus Glücksgefühlen und großer Wehmut, die der Berliner Autor Lothar Trolle in eine Art Hörspiel fasste, aus dem Armin Petras die Wanderung baute.
Eine wunderschöne Sache, wie viele Teilnehmer finden, weil sie ihre Stadt einmal mit „ganz anderen Augen“ betrachten und an Stellen verharren, an denen sie im Alltag nur vorbeihasten. Die technisch perfekt ausgestattete und liebevoll geführte Wanderung beginnt mit einer Runde ums Theater, wobei von den frühen Zeiten der Bühnen am Berliner Platz und im „Goldenen Ring“ erzählt wird. Nach Gedenkmomenten an Schiessers Wohnplätzen führt der Weg zur Gedenktafel am Standort der einstigen Synagoge. Bis dahin und auch hier unterliefen den Autoren unnötige und unglückliche Ungenauigkeiten in Straßennamen und falschem Klatsch über einen Kindsmord. Auch an der Tafel selbst gibt es falsche Auskunft; sie ist nicht 1999, sondern 1988 angebracht worden, also nicht nur in einem anderen Jahr, sondern in einer anderen Gesellschaftsordnung, was nicht unwesentlich ist. Im späteren Verlauf wird Nachdenken von Cottbusern über ihre Stadt gestern, heute („eine Stadt im Halbschlaf“) und morgen wiedergegeben. Der „Geist des Ortes“ spielt leider keine Rolle mehr. Am eingangs zitierten „Goldenen Ring“, jetzt Altes Stadthaus, und anderen Orten hätte sich das nach etwas lokaler Beratung sehr gut angeboten.
Nächste „Nocturne“-Termine sind am 10.5. und 9.6.2023, jeweils 19.30 bis 21 Uhr.
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